Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Verbot des Mitführens eines
Blindenführhundes
Pressemitteilung Nr. 10/2020 vom 14. Februar 2020
Beschluss vom 30. Januar 2020
2 BvR 1005/18
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Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats
der Verfassungsbeschwerde einer blinden Beschwerdeführerin als
offensichtlich begründet stattgegeben und die Sache zur erneuten
Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen. Der Beschwerdeführerin
war durch die Ärzte einer Gemeinschaftspraxis verboten worden, ihre
Blindenführhündin bei der für sie notwendigen Durchquerung der Praxis
mitzuführen. Der dies bestätigende Gerichtsbeschluss verletzt die
Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, weil das
Gericht bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) die Tragweite des besonderen
Gleichheitsrechts und seine Ausstrahlungswirkung auf das bürgerliche Recht
nicht hinreichend berücksichtigt hat, indem es in dem scheinbar neutral
formulierten Verbot, Hunde in die Praxis mitzuführen, nicht zumindest eine
mittelbare Benachteiligung der Beschwerdeführerin erblickt hat.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis.
Diese Praxis befindet sich im selben Gebäude wie die im Ausgangsverfahren
beklagte Orthopädische Gemeinschaftspraxis. Die Physiotherapiepraxis ist zum
einen ebenerdig durch die Räumlichkeiten der Orthopädischen
Gemeinschaftspraxis zu erreichen und zum anderen durch den Hof über eine
offene Stahlgittertreppe. Ein Schild weist beide Wege aus. In der Arztpraxis
führt ein Weg durch das Wartezimmer zu einer Notausgangstür, auf der ein
Schild mit der Beschriftung „Physiotherapie“ angebracht ist. Die
Beschwerdeführerin hatte diesen Durchgang bereits mehrfach mit ihrer
Blindenführhündin genutzt. Am 8. September 2014 untersagten die Ärzte der
Orthopädischen Gemeinschaftspraxis der Beschwerdeführerin, die Praxisräume
mit ihrer Hündin zu betreten und forderten sie auf, den Weg über den Hof und
die Treppe zu nehmen. Als die Beschwerdeführerin an einem anderen Tag erneut
die Praxisräume durchqueren wollte, verweigerten sie ihr den Durchgang. Die
Beschwerdeführerin beantragte vor dem Landgericht, die Ärzte der
Gemeinschaftspraxis zur Duldung des Durch- und Zugangs zusammen mit der
Hündin zu verurteilen. Sie trug vor, diese könne die Stahlgittertreppe nicht
nutzen. Die Hündin scheue die Treppe, weil sie sich mit ihren Krallen im
Gitter verfangen und verletzt habe. Die Klage blieb erfolglos, das
Kammergericht wies mit angegriffenem Beschluss auch die Berufung der
Beschwerdeführerin, die inzwischen einen Rollstuhl benutzen musste, zurück.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen
ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen. Eine verbotene
Benachteiligung liegt insbesondere bei Maßnahmen vor, die die Situation von
Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Erfasst werden auch
Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Entfaltungs- und
Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer
Maßnahme darstellt. Das Verbot der Benachteiligung ist Grundrecht und
zugleich objektive Wertentscheidung. Aus ihm folgt im Zusammenwirken mit
speziellen Freiheitsrechten, dass der Staat eine besondere Verantwortung für
behinderte Menschen trägt. Nach dem Willen des Verfassungsgebers fließt das
Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen als Teil der objektiven
Wertordnung auch in die Auslegung des Zivilrechts ein. Das Recht auf
persönliche Mobilität aus Art. 20 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)
ist bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen ebenfalls zu berücksichtigen.
Danach haben die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen zu treffen, um für
Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher
Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie unter anderem ihren Zugang zu
tierischer Hilfe erleichtern.
2. Nach diesen Maßstäben verkennt die angegriffene Entscheidung die
Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, weil sie dessen
Ausstrahlungswirkung in das Zivilrecht nicht berücksichtigt. Indem das
Kammergericht davon ausgeht, die Benachteiligung der Beschwerdeführerin sei
nicht von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG erfasst, hat es das zivilrechtliche
Benachteiligungsverbot nicht im Lichte des Grundrechts ausgelegt. Ob eine
unmittelbare Benachteiligung vorliegt, wofür die enge Verbindung zwischen
einer blinden Person und ihrem Führhund sprechen könnte, kann dahinstehen.
Jedenfalls handelt es sich um eine mittelbare Benachteiligung der
Beschwerdeführerin.
3. a) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach
neutrale Vorschriften Personen wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen
Personen in besonderer Weise ohne sachliche Rechtfertigung benachteiligen
können. Das scheinbar neutral formulierte Verbot, Hunde in die Praxis
mitzuführen, benachteiligt die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung
in besonderem Maße. Denn es verwehrt ihr, die Praxisräume selbständig zu
durchqueren, was sehenden Personen ohne Weiteres möglich ist. Das
Kammergericht stellt darauf ab, dass die Beschwerdeführerin selbst gar nicht
daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen, sondern sich wegen
des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert sehe. Hierbei
beachtet es nicht den Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit
sich gebracht hat. Es vergleicht die Beschwerdeführerin nicht mit nicht
behinderten Personen, sondern erwartet von ihr, sich helfen zu lassen und
sich damit von Anderen abhängig zu machen. Dabei verkennt es, dass sich die
Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten Person anvertrauen
und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl
schieben lassen müsste. Dies kommt einer Bevormundung gleich, weil es
voraussetzt, dass sie die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre aufgibt.
4. b) Die Benachteiligung ist unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3
Satz 2 GG nicht durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt. Das
Kammergericht hält die Benachteiligung der Beschwerdeführerin für sachlich
begründet, weil die Ärzte „hygienische Gründe“ geltend gemacht haben. Dabei
differenziert es nicht zwischen dem generellen Verbot des Mitbringens von
Tieren in die Praxis und dessen Anwendung auf die Beschwerdeführerin und
deren Blindenführhund. Es ist bereits zweifelhaft, ob hygienische Gründe,
die gegen das Mitbringen von Tieren in eine Arztpraxis angeführt werden
mögen, mit Blick auf das Mitführen eines Blindenführhundes einen
sachgerechten Grund für das Durchgangsverbot darstellen können. Zwar geht
das Kammergericht selbst davon aus, dass eine Infektionsgefahr zu
vernachlässigen sei. Dennoch nimmt es an, auch ein gepflegter Hund könne die
Sauberkeit der Praxisräume beeinträchtigen, sei es durch Schmutz oder
Feuchtigkeit, Haarverlust oder Parasitenbefall. Dabei lässt es außer Acht,
dass es sich bei dem Raum, den die Beschwerdeführerin durchqueren muss, um
einen Wartebereich handelt, den Menschen mit Straßenschuhen und in
Straßenkleidung betreten oder unter Umständen in einem Rollstuhl aufsuchen
müssen. Eine nennenswerte Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse
durch die Hündin beim gelegentlichen Durchqueren des Warteraums liegt daher
eher fern. Soweit das Gericht darauf abstellt, dass ein berechtigtes Ziel
einer Praxis bereits darin bestehe, gegenüber ihren Patienten den Eindruck
nicht uneingeschränkt reinlicher und auf deren körperliches Wohlbefinden
ausgerichteter Zustände zu vermeiden, beziehungsweise dass es legitim sei,
dass die Ärzte ihre Praxis keinem „Makel“ aussetzen wollten, vermag diese
Überlegung möglicherweise ebenfalls ein generelles Mitnahmeverbot von Tieren
in die Praxis zu begründen. Da aber die Beschwerdeführerin – für alle
anderen Patienten sichtbar – beim Durchqueren des Warteraums auf ihre
Führhündin angewiesen ist, ist schon nicht nachvollziehbar, inwieweit die
Praxis durch das Zulassen dieser Handlung in den Verdacht unreinlicher
Verhältnisse oder eines „Makels“ geraten könnte.
5. c) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt das
Kammergericht die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht
hinreichend. Das Durchgangsverbot ist bereits nicht erforderlich, um einer –
zu vernachlässigenden – Infektionsgefahr in der Praxis vorzubeugen. Sowohl
das Robert Koch-Institut als auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft gehen
davon aus, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die
Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen.
Bedenken gegen diese Einschätzung sind im Ausgangsverfahren weder
vorgetragen worden, noch sind sie ansonsten ersichtlich. Bei der Prüfung der
Angemessenheit des Durchgangsverbots sind die auf Seiten der Ärzte
betroffenen Interessen – die Berufsausübungsfreiheit und die allgemeine
Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie – gegen das in Art. 3 Abs. 3
Satz 2 GG geschützte Recht der Beschwerdeführerin, nicht wegen ihrer
Behinderung benachteiligt zu werden, gegeneinander abzuwägen. Während die
wirtschaftlichen Interessen der Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der
Praxis mit Hund allenfalls in geringem Maße beeinträchtigt werden, bringt
das Verbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin. Es wird ihr
unmöglich, wie nicht behinderte Personen selbständig und ohne fremde Hilfe
in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen. Das
Kammergericht verkennt offenkundig, dass das Benachteiligungsverbot es
Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein
selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Das
Benachteiligungsverbot untersagt es, behinderte Menschen von Betätigungen
auszuschließen, die nicht Behinderten offenstehen, wenn nicht zwingende
Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen. Dieser Auslegung liegt das
auch in Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c BRK zum Ausdruck kommende Ziel
zugrunde, die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von Menschen mit
Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und
die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Mit diesem Ziel und
dem dahinterstehenden Menschenbild ist es nicht vereinbar, die
Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihre Führhündin vor der Praxis
anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen
abhängig zu machen. Deshalb müssen die Interessen der Ärzte hinter dem Recht
der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zurückstehen. Das
Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteiligt sie in
verfassungswidriger Weise.